Zett hat geschrieben:Man kann sich nur für etwas schämen, von dem man meint, es gehöre sich nicht. Voraussetzung dafür ist die Verinnerlichung sittlicher Normen wie Anstand und Rücksicht - oder eben auch sittliche Normen zur Nacktheit, die sagen, wo Nacktheit "normal" ist, wo es "unklar" ist und wo es eindeutig "verboten" ist.
Nein, das sehe ich etwas anders.
Ja, Scham ist anerzogen, sonst würden sich nicht unterschiedliche Völker oder sogar einzelne Menschen für unterschiedliche Dinge schämen. Das ist unbestritten.
Aber: Scham ist eine emotionale Reaktion, die unbewusst in verschiedenen Situationen kommt.
Viele Menschen schämen sich, sich nackt zu zeigen. Selbst da, wo es eventuell nötig ist, z.B. beim Arzt. Sie können es noch so sehr einsehen, dass es nötig ist, sie schämen sich trotzdem.
Ich schäme mich (wie wohl alle hier) nicht meiner Nacktheit wegen. Ich könnte mich überall ausziehen, ohne dass die Scham-Reaktion kommt. Auch mitten in der Fußgänger-Zone. Ich tue letzteres trotzdem nicht, weil es sich "nicht gehört". Das ist ein bewusster, rationaler Vorgang. Ich weiß, dass andere Menschen daran Anstoß nehmen könnten oder es mindestens mit argem Kopfschütteln quittieren mögen, also tue ich es nicht.
Nehmen wir mal ein ganz anderes Beispiel, denn man schämt sich ja auch für andere Dinge als für Nacktheit: Mensche Menschen schämen sich dafür, wenn sie irgendwas Dummes oder Falsches gesagt haben und es ihnen bald danach auch klar wird. Also für etwas, was passieren kann, was objektiv betrachtet vielleicht nicht klug war, aber eben auch kein Drama. Dennoch verursacht es bei solchen Menschen eine große emotionale Reaktion, die der Sache gar nicht angemessen ist.
Scham ist eine emotionale Reaktion, die uns hemmen kann, bestimmte Dinge zu tun, selbst wenn sie nötig wären, und sie kann sogar von anderen Menschen missbraucht werden, um uns zu steuern, indem sie von diesen bewusst hervor gerufen wird.
Anstand ist eine rationale Angelegenheit, die uns davor bewahrt, bestimmte Dinge zu tun, die zumindest im jeweiligen Kontext sozial nicht akzeptiert sind. Weil das rational ist, ist es dennoch steuerbar, kann quasi Situations-bedingt "abgeschaltet" werden und auch im Gegensatz zur Scham nicht zu unserer Manipulation eingesetzt werden.