Hannes hat geschrieben:Hmm...das würde bedeuten, dass man zur "Nacktscham" erzogen werden kann???
Ich kenne das Wort gar nicht und ich habe mich auch noch nie in meinem Leben wegen meiner Nacktheit geschämt.
Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. In meiner Kindheit und Jugend liefen immer irgendwelche Kinder oder Erwachsene nackt rum
und keiner hat daraus ein Thema gemacht, geschweige denn ein Erziehungsziel.
Es war und ist bis heute einfach die natürlichste Sache der Welt! - Nicht immer und überall, ich weiß, aber wenn es dazu führt,
dass man sich vor dem Arzt, der Ärztin nicht nackt ausziehen mag, dann ist da richtig was schief gelaufen.
Ich komme gerade aus der Sauna, dort war ein Mann zu Gast, der schon ein langes Leben hinter sich hat.
Er ist auch gehbehindert und durch seine Osteoperose-Erkrankung ist seine Haltung krumm und schief.
Großen Apetit scheint er auch nicht mehr zu haben, denn er war sehr mager von Gestalt. Alles in Allem eher ein Häufchen Elend,
als eine attraktive Erscheinung. Trotzdem geht dieser alte Mann frohen Mutes nackt in die Sauna!
Das hat mir und vielen anderen Besuchern enormen Respekt abverlangt und ich ziehe vor solchen Menschen meinen Hut!
Warum erzähle ich das?
Na ja, Schamgefühle kann sich dieser Mann nicht leisten, wenn er weiterhin am Leben teilnehmen möchte.
Und da stellt sich mir dann die Frage, ist Scham eine Charaktereigenschaft, die die einen haben und die anderen nicht?
Wird sie quasi mit der Muttermilch eingesogen? Oder ist sie bei einigen anerzogen, und man muss sich später mit Mühe davon befreien?
Und macht es Sinn, einem Menschen mit einem ausgepägten Schamgefühl zum Naturismus zu überreden, bzw. zu erziehen...?
Ich bin da eher auf Trixis Seite, die sagt, das muss von einem selber kommen und sollte nicht von außen "anerzogen", oder
beeinflusst werden. Wobei mich die vielen Nackten in meiner Kindheit sehr wahrscheinlich ein Stück weit auch beeinflusst haben...
Aber ob ich es dann auch so mache, es übernehme, ist irgendwann meine freie ganz persönliche Entscheidung.
Einleitend muss ich gestehen, dass ich zwischen Nacktscham und Körperscham nicht ausreichend unterschieden habe. Weiter unten hole ich das nach…
Freilich überrascht es mich, dass Du das Wort Nacktscham gar nicht kennst. Also, Nacktscham ist ein Gefühl der Verlegenheit, Peinlichkeit oder eben in der höchsten Intensität ein Gefühl der Scham, wenn manN bei unpassenden Gelegenheiten nackt ist.
Bei Scham als intensivstes Gefühl (vgl. Sprichwörter „Vor Scham in den Boden versinken wollen“, „vor Scham unsichtbar sein wollen“) stellen sich auch körperliche Folgen ein: der rote Kopf, Herzklopfen, erhöhter Puls, allgemein fomuliert: Stressreaktionen.
Gem. Wikipedia gilt die Fähigkeit, Scham zu empfinden, als angeboren. Im zwischenmenschlichen Kontakt kommt es zu einer Ausdifferenzierung. Die Anlässe für ein Schamgefühl variieren zwischen sozialisations- und kulturbedingten sowie entsprechend der individuellen Veranlagung und der aktuellen Befindlichkeit.
Selbstverständlich hat auch jede Gesellschaft Regeln, deren Einhaltung von den Mitgliedern erwartet wird. Dazu gehört eine angemessene Bekleidung im öffentlichen Raum, je nach Setting bzw. Ort und Situation. Anders herum: das Fehlen von Bekleidung ist nur in wenigen Situationen allgemein akzeptiert, nämlich zB am FKK-Strand. An einem „normalen“ Strand haben zumindest vorpubertäre Kinder Freiheiten, die ab der Pubertät idR. nicht mehr zugestanden werden.
Kindern werden diese Regeln vermittelt, sie werden erzogen. Und sie werden beschämt, wenn sie diese Regeln nicht einhalten. Insofern ist Nacktscham nicht die Scham, dass manN sich wegen seines (nicht zwingend nackten) Körpers schämt, weil manN mit irgendeinem Körperteil deutlich vom Durchschnitt abweicht, sondern die Scham, die Bekleidungsregeln nicht eingehalten zu haben.
Sinn der Scham ist letztlich Eigenschutz vor gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten, hier: Bekleidungsregeln nicht einzuhalten. Umgekehrt ist die Beschämung als aktiver Akt eine intensive Bloßstellung des „Delinquenten“, die idR. mit einer Kränkung bzw. Schmach einhergeht.
Und wie es in der Erziehung so ist, kann vieles schiefgehen. Die Vermittlung „übertriebener“ Nacktscham ist wenig hilfreich. An einem Ort, an dem alle nackt sind oder in Situationen, in denen Nacktheit nicht vermeidbar ist, IST dem lieben Nachwuchs zu erklären, dass Nacktscham unsinnig, ggf, kontraproduktiv ist. Ich habe da immer noch einen Beitrag im Kopf, in dem es heißt, dass eine 7jährige Enkelin nicht in die zweite Klasse möchte, weil dann Schwimmunterricht auf dem Lehrplan steht und sie dann von allen nackt gesehen werden kann…Da frage ich mich, was da schiefgegangen ist. Welches Problem hat das Mädchen?!
Noch einmal: eine andere Hausnummer ist die Körperscham, die sich aber nicht zwingend auf den Genitalbereich beschränkt.
Um dies auf Dein Beispiel mit dem alten Mann zu übertragen: Nacktscham ist in einer Sauna Unsinn. Das er frei von Körperscham ist, trotz seines Aussehens als „Häufchen Elend“, finde ich toll.
Bliebe die Frage, ob man den Nachwuchs zum Naturismus erziehen soll(te)…Nun, das Ziel, mit der Natur möglichst im Einklang zu leben (was immer das dann im Einzelfall auch ist), Du hast es selbst beantwortet: Nacktheit ist die natürlichste Sache der Welt. Dies als Ziel zu vermitteln finde ich sinnvoll. Dazu gehört dann auch die Vermittlung, sich wegen seines Körpers nicht schämen zu brauchen…das sind zugegebenermaßen hehre Ziele.