Tim007 hat geschrieben:Und Du fängst buchstäblich bei Adam und Eva an und wählst eine Interpretation über die Nacktheit im Paradies und die Vertreibung aus dem Paradies, die möglich ist, jedoch m.E. genauso falsch ist wie die Annahme, dort habe ein Apfelbaum gestanden.
Das ist die heutige Deutung, aber lange Jahrhunderte wurde Bekleidungszwang mit den Geschehnissen im Paradies gerechtfertigt.
Tim007 hat geschrieben:Dass "die" Kirche zugeknöpft und prüde war, ist deshalb falsch, weil "die" Kirche alle Getauften sind, und es ist nicht anzunehmen, dass alle gleich dachten. Eine Hierarchie gab und gibt es nicht.
Lasst dir gesagt sein: Die protestantischen Kirchen und ihre Schäfchen
waren in diesem Punkt keinen Deut besser als die katholische(n).
Ich zitiere aus einer
Doktorarbeit über „Politische Vergangenheiten – Entpolitisierungs- und Politisierungsprozesse im österreichischen Protestantismus 1933/34 bis 1968“ (Fettschreibung durch mich, anstelle der Verweisnummern habe ich Sterne verwendet):
2.3.2 Evangelische Wertekodizes, evangelischer Antisemitismus und der nationalsozialistische Unrechtsstaat
Anders als in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Römisch-Katholischer und Evangelischer Kirche herrschte innerhalb der evangelischen Pfarrerschaft und wohl auch innerhalb des österreichischen Protestantismus in Bezug auf die zeitgemäßen ethisch-religiösen Wertekodizes und Sittlichkeitsideale weitgehende Einigkeit vor. Den gesellschafts- und sexualpolitischen Fragestellungen und Herausforderungen der 1920er- und 1930er-Jahre begegnete man zumeist in streng konservativer Einmütigkeit (s. u.), die die kirchenpolitischen und theologischen Gruppierungen innerhalb der Pfarrerschaft jener Zeit (s. o.) nahezu konterkarierte:
Nicht nur der übermäßige Suchtmittelgenuss bzw. der Alkoholismus als Bewältigungsform von Kriegstraumata und Nachkriegselend riefen nach 1918 über 20 evangelische Sittlichkeits- und Mäßigungsvereine auf den Plan; daneben sagten die kirchlichen Vereine auch dem »Wohnungselend«, den »Seuchen«, dem »Kitsch auf der Leinwand« und dem »Schmutz aus der Druckerpresse« den Kampf an. In einem der »meist gebrauchten« Religionslehrbücher dieser Zeit wurde unter dem Schlagwort der »Mäßigkeit im Sinnengenuss« etwa auf das fromme Beispiel pietistischer Kreise verwiesen, die »Konzerte, Spiel und Geselligkeit völlig« vermieden hätten. Aufgrund der als alarmierend empfundenen gesellschaftlichen Situation reihte sich 1925 selbst die Generalsynode der Evangelischen Kirche A. und H. B. in Österreich mit einer offiziellen Synodenerklärung in die Stimmen der gesellschaftspolitischen Mahner und Warner ein *
* 1931 hatte der katholische Theologe Alois Hudal die »Verheidung der Familien«, die »steigende Zahl der Ehescheidungen«, den »Anstieg der Selbstmorde, der sexuellen Erkrankungen«, die »Kirchenaustritte«, die »Nacktkultur«, die »Schmutzliteratur« und die »sexuelle Verrohung von Bühne, Film, Presse und Reklame« als die »katholischen Ängste« in der Zeit der Ersten Republik aufgelistet.
(…)
3.5.2 ›Bedrohte‹ und ›bedrohliche‹ Jugend zwischen Ost und West
(…)
Unmittelbar nach Kriegsende machten sich maßgebliche kirchenpolitische Akteure – allen voran der Wiener Superintendent Georg Traar (s. o.) – an die »Sammlung der evangelischen Jugend«, die gleichsam als Speerspitze einer kirchlichen Bekenntnisbewegung, als lebendige und glaubwürdige »Bibel des Nichtchristen«, »zum Dienst in Welt und Zeit« gerufen wurde. Auch die Evangelische Studentengemeinde konstituierte sich bedeutungsvoll unter dem Tertullianwort »Vocati sumus ad militiam dei vivi« – »Wir sind gerufen, Kämpfer des lebendigen Gottes zu sein«. Bald setzte die evangelische Jugend gemeinsam mit der katholischen Jugend erste bemerkenswerte ökumenische Akzente; verstärkt wandte man sich nunmehr auch der österreichischen Arbeiterjugend zu.
(…)
So ging im Jahre 1950 etwa nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Jugend auf die Straße, um gegen den ›sittenverderbenden‹ und allgegenwärtig erscheinenden »Schmutz und Schund« zu protestieren. Dabei richtete sie sich v. a. gegen den westorientierten Unterhaltungs- und Konsumkapitalismus, der in Form von Massenmedien und Werbeindustrie zweifelsohne einen großen Einfluss auf die allmähliche Enttabuisierung und Liberalisierung der althergebrachten Sexualnormen gewonnen hatte. Die Grenzen zwischen pornographischen Erzeugnissen und einfachen Comics sowie die innere Diversität ›pornographischer‹ Darstellungen** verschwammen zwar oftmals in dieser kategorischen Ablehnung der als wertlos und als schädlich geziehenen Produkte.
(…)
** Nahezu jede Darstellung – mehr oder weniger – nackter Körper beziehungsweise Menschen wurde in der Vergangenheit bereits als Pornographie interpretiert und diskutiert, begrüßt oder verdammt und kann auch in Zukunft als solche wahrgenommen und genutzt werden.In den 1960er Jahren ging es weiter – Zitat aus der o.g. Doktorarbeit:
Sukzessive verloren die Kirchen über die 1960er-Jahre hinweg ihren ehemals normierenden Einfluss »auf das Sexualverhalten und vor allem auf die Sexualmoral ihrer Anhänger« Diesen Satz finde ich sehr wichtig, denn er beweist,
dass die Kirchen vorher, d.h. bis in die 1950er Jahre hinein,
normierenden Einfluss auf das Sexualverhalten und vor allem
auf die Sexualmoral ihrer Anhänger hatten. Und weil bis zum II. Weltkrieg die Bevölkerung Deutschlands und Österreichs zu 95 % aus Christen bestand, galt dieser Einfluss der Gesamtbevölkerung. Das wurde von Eule immer bestritten.
Zitat aus der o.g. Doktorarbeit:
Die Kirchen blieben mit ihren Antworten und Reaktionen hinter den Fragen, Anforderungen und Herausforderungen der Zeit zurück. Beharrlich suchten sie jedoch auch weiterhin das ›Sittlichkeitsempfinden‹ einer (heterosexuellen) Bevölkerungsmajorität zu definieren und es gleichsam zur gesellschaftsnormierenden Sexualordnung (wie auch zum strafrechtlichen Schutzgut) zu erheben. Insbesondere die ›Evangelische Filmgilde‹ (s. o.), aber auch die evangelische Kirchenleitung stemmten sich in den 1960er-Jahren mit aller Kraft gegen die drohende »Sex-Welle«, gegen das »willentliche Auseinanderreißen von Eros und Sexus«, gegen den vorehelichen Geschlechtsverkehr.Hierbei gebärdeten sich die evangelischen Sittenwächter teilweise sogar strenger als die katholischen – Zitat aus der o.g. Doktorarbeit:
Die zu Beginn der 1960er-Jahre überaus kontrovers diskutierte ›Glaubenstrilogie‹ des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman wurde in der Evangelischen Kirche – teils wegen der erotischen Szenen, teils auch wegen des pessimistischen Menschenbilds – nicht nur scharf kritisiert; nachdem die katholische ›Filmkommission‹ den zweiten Teil, ›Licht im Winter‹ (1962), unerwartet für die Festwoche des Religiösen Films zugelassen hatte, sah sich die ›Evangelische Filmgilde‹ vielmehr sogar dazu genötigt, »schwer enttäuscht [...] der Filmwoche 1963 [ihre] Teilnahme zu versagen«. Was bei den Katholen ein Hirtenbrief ist, ist bei den Evangelen das „Amtsbrüderliches Rundschreiben“. In einem solchen hat Gerhard MAY, Bischof der Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Österreich, 1956 die Jugend zu Ordnung gerufen – Zitat aus der o.g. Doktorarbeit:
Das »reformatorische Verständnis der Freiheit« solle nicht »mit einem deformatorischen Freiheitsbegriff« verwechselt werden, warnte Gerhard May; Jugendpfarrer Heinrich Matiasek und der Herausgeber des Jahrbuchs, ›Banner‹-Chefredakteur Arnulf Pyrker, wurden als Verantwortliche zur Aussprache geladen. »Es ziemt sich nicht, alles, was von Mensch zu Mensch gesagt werden muß, öffentlich zu schreiben«, so die aussagekräftige Mahnung Gerhard Mays, in der sich die tabuisierende Haltung eines kirchlichen wie politischen ›Establishments‹ gegenüber dem Sexuellen deutlich widerspiegelt. Eine andere Quelle, die beweist, dass nicht nur die Katholiken begeistert von Hitler waren, sondern auch Protestanten. Dabei spielten die gleichen Motive eine entscheidende Rolle –
Zitat:
Das Bild des bibellesenden, frommen Führers wurde für die evangelische Frauenhilfe vervollständigt durch das des Saubermanns der Nation. Schon im April 1933 hatte die Frauenhilfe die verschärften Erlasse von Hermann Göring als Reichskommissar in Preußen gegen die „öffentliche Unsittlichkeit" lebhaft begrüßt. Der Berliner Polizeipräsident ergriff Maßnahmen gegen Animierkneipen und Absteigequartiere, gegen Nacktkultur, Prostituierte und homosexuelle Elemente. Sie hoffte auf eine „wirkliche Säuberung des Straßenbildes“ und stellte im November 1933 befriedigt fest: „Der Prozeß der Entschmutzung des Volkslebens ist im vollen Gange. Verschwunden sind die geschickt getarnten Unzuchtinserate einer gewissen Großstadtasphaltpresse. Massageinstitute, die nichts waren als mehr oder weniger elegante Lasterhöhlen, sind geschlossen. Private Leihbüchereien sind von Tausenden schmutziger Bücher gesäubert. Aufgehört hat die mit Sitte und Anstand unvereinbare öffentliche Propaganda für empfängnisverhütende Mittel. Energisch vorgegangen wurde gegen Absteigequartiere bordellartigen Charakters, gegen Animierkneipen und Schankbetriebe, die die widernatürliche Unzucht förderten."
Die bunte öffentliche Vielfalt der Weimarer Zivilgesellschaft wurde rigoros auf die Farbe braun und auf eine enge, rígide, unnatürliche Sexualmoral reduziert. Sie überdauerte die militärische Niederlage 1945 und wurde bis in die 60er Jahre mit einer protestantischen Ethik verwechselt.Das müsste reichen, um dich von deiner irrigen Annahme abzubringen, evangelische Kirchen und ihre Schäfchen wären in Vergangenheit toleranter als die katholischen.
Zu deinem Trost hier ein Dokument aus dem Jahr 1930, das sich gegen die Bevormundung durch die Kirchen wandte – man es
hier einsehen. Ich habe es nicht ganz gelesen, das meiste nur überflogen, dennoch haben mir einige Punkte besonders gefallen – es sind dies Punkte 8, 9, 11, 13, und Seiten 30, 33-34, 50ff, 60.