HTJ hat geschrieben:Nehmen wir an, ein Körpergewicht von 70 kg wäre das Schönheitsideal. Früher hätte man gesagt, alles von 60 kg bis 90 kg ist in Ordnung, das ist hübsch. Heute wäre nur ein Gewicht von 69 kg bis 71 kg in Ordnung. Alles andere gilt dann als häßlich.
Hässlich? Du übertreibst. Gewicht ist nicht alles, es kommt darauf an, wie sich dieses auf dem Körper verteilt, d.h. wie dessen Proportionen aussehen. Ein Mensch, der 90 Kilo wiegt, aber nur 160 cm groß ist, sieht schon anders aus, als einer, der 190 cm misst.
HTJ hat geschrieben:Da kommen im Netz dann Kommentare wie: "Bist du aber fett."
Im Netz gibt es alles – auch in diesem Forum gibt es Idioten.
HTJ hat geschrieben:Die eigentliche Meiningsverschiedenheit besteht ja darin, daß du sagst, Phasen der Toleranz gegenüber Nacktheit wechseln sich eben ab mit Phasen der Intoleranz. Das hat keinen Grund, das ist eben so. Ich aber sage, jeder kulturelle Wandel hat eine Ursache.
Nein, es gibt nicht
einen Grund für Wandel, sondern mehrere. Das habe ich immer gesagt.
Die gleichen Gründe nennt auch Wikipedia – Zitat aus dem von dir verlinkten Artikel
sozialen/kulturellen Wandel (Fettschreibung durch mich):
Die Bestimmung der Ursachen von sozialem Wandel ist recht komplex. Versuche, den Wandel monokausal durch einen einzelnen Faktor zu erklären (z. B. durch technische Entwicklung, ökonomische Basis, Kultur, Religion etc.), gelten heute als ungeeignet. Man geht vielmehr von einer weitreichenden Interdependenz der sozialen Handlungsfelder und Bereiche aus, wobei einzelne Bereiche anderen Bereichen vorauseilen können.
(…)
Kultureller Wandel
(…)
Wie Claude Lévi-Strauss erkannte, war das weitaus häufigste und über Jahrtausende gültige Bestreben der Menschen, jeglichen Wandel nach Möglichkeit zu „bremsen“ oder zu verhindern. Ein deutlich beschleunigter kultureller Wandel tritt ein, wenn die weltanschaulichen Einstellung einer Gesellschaft dem Fortschritt und der Veränderung gegenüber überwiegend positiv ist, wie es vor allem in der europäischen Hochkultur seit der Antike der Fall ist.
(…)
Eine wichtige Triebfeder für den kulturellen Wandel sind äußere Zwänge durch Umweltveränderungen, die eine Anpassung erfordern. Ging man ursprünglich davon aus, dass dies zu bewussten, intentionellen Reaktionen führte, weiß man heute, dass keine Kultur optimal an ihre Umwelt angepasst ist. Dies wird etwa wie folgt begründet:
1. Keine menschliche Entscheidung beruht nur auf Vernunftgründen, sondern enthält immer auch emotionale und kulturelle Aspekte
2. Jegliche Einschätzung eines Problems, der Lösungen und Risiken ist abhängig vom Zeitgeist und der jeweiligen Situation
(...)
Entsteht ein Wandlungsprozess durch die Begegnungen mit anderen Kulturen, aus denen Teile übernommen und zu einer neuen Form abgeändert werden, spricht man von „induziertem“ Kulturwandel. Dies wäre unter anderem die zwangsweise Übertragung von Strukturen der imperialistischen Staaten auf die eroberten Völker während der Kolonialzeit, aber ebenso die freiwillige Übernahme fremder Kulturgüter durch Handel und Kommunikation. Wenn ich das mit 2 Beispielen illustrieren darf: Die Anpassung an die Umwelt hat Menschen außerhalb der Tropen die Kleidung gebracht, und wir haben dann diese Kleidung in die Tropen gebracht, obwohl sie dort gar nicht gebraucht wird. Aber wir habe dorthin nicht nur Kleidung gebracht, sondern auch unsere Nacktheitsscham, die sich aus der Tatsache entwickelte, dass wir Kleidung über tausende von Jahren und bis heute tragen mussten bzw. müssen. Aus einer Notwendigkeit wurde ein Muss, das aber kulturell begründet wird: Wer keine Kleidung in der Öffentlichkeit trägt, ist bis heute ein Außenseiter, d.h. einer, der ungeschriebene Gebote und Verbote nicht achtet.
Die FKK-Bewegung hat es zwar geschafft, die Nacktheitsscham als nicht rational zu erklären, aber das Tabu, nicht in der Öffentlichkeit nackt herum zu laufen, ist stärker als jede rationale Erklärung.
Und noch ein Wort zu dem „über Jahrtausende gültige Bestreben der Menschen, jeglichen Wandel nach Möglichkeit zu „bremsen“ oder zu verhindern." Wenn man sich unsere heutige Kultur ansieht, sieht sie nicht viel anders aus als die von alten Griechen und Römern. Klar, es gab im Laufe der letzten 2-3 Jahrhunderte einige Verbesserungen hinsichtlich Menschenrechte – die meisten davon mussten gegen den Widerstand der christlichen Kirchen erkämpft werden –, aber ansonsten läuft es wie ehedem.
HTJ hat geschrieben:In Sachen Nacktheit und FKK wäre hier der technische "Fortschritt" das Aufkommen der heutigen Medienlandschaft zu nennen. Die Rolle der Medien in Sachen Nackheit in den 1990er Jahren habe ich schon oft erwähnt.
Das sind Begleiterscheinungen, keine Gründe. Sie werden genannt, weil man auf der rationalen Eben der Erklärung der Nacktheitsschams nicht widersprechen kann. Typisch ist diese Aussage: „Ja, es stimmt, wir werden nackt geboren und müssen uns deswegen dessen nicht schämen, aber
nackt herumzulaufen gehört sich trotzdem nicht: Wer das tut, sollte sich was schämen!“
Auch FKK-ler wissen das, deswegen fühlen sie sich in Anwesenheit der Angezogenen unwohl – weil diese sie daran erinnern, dass sie mit ihrer Nacktheit gegen ein gesellschaftliches Tabu verstoßen.
HTJ hat geschrieben:Im Prinzip ist ein kultureller Wandel ein Mischung aus verschiedenen Ursachen.
Dann sind wir ja einer Meinung.
HTJ hat geschrieben:Die wirtschaftliche Situation der Menschen ist aber ein wichtiger Teil davon.
Sie spielt, wie andere Dinge auch, sicher eine gewisse Rolle, aber wichtig ist sie nicht. Beweis: Als Menschen so arm waren, dass sie keine Kleider zum Wechseln, geschweige denn eine Badebekleidung hatten, badeten sie im Sommer in Flüssen und Seen mit anderen gemeinsam, also öffentlich, nackt.
Trotzdem wetterte die katholische Kirche gegen diese Sitte – es gibt schriftliche Zeugnisse davon – natürlich mit dem Hinweis auf Gott: „Wenn Gott gewollt hätte, dass Menschen nackt herumlaufen, hätte er ihnen nicht selbst Kleidung aus Fellen gemacht.“ Aus einer Sitte wurde so ein göttliches Gebot oder vielmehr ein Verbot, denn sich dem göttlichen Wort zu widersetzen zog früher – und manchmal auch heute – eine Strafe nach sich.
Das war natürlich eine Erklärung im Nachhinein, genauso wie das auch in anderen Religionen der Fall war und ist: Man möchte dem Offensichtlichen, nämlich dem Kleidungsgebot, das sich wahrscheinlich in der Steinzeit entwickelte, zur höheren Autorität verhelfen. Sich auf höhere Autoritäten zu berufen, ist das normale Verhalten von uns Menschen, wenn man andere von etwas überzeugen möchte.