Ein Artikel aus der Süddeutschen zum Nachdenken: Gelbwesten, Querdenker, Proud Boys - populistische Bewegungen haben eines gemeinsam: Ihre Anhänger sind allein. – hier ein paar längere Zitate (Fettschreibung durch mich), weil der Artikel kostenpflichtig ist:
In einer kürzlich ausgestrahlten Dokumentation erinnert sich der frühere französische Premierminister Édouard Philippe an den Aufstieg der Protestbewegung der gilets jaunes im Winter 2018. Den an ihren gelben Warnwesten zu erkennenden Männern und Frauen, die jeden Samstag die Verkehrskreisel Frankreichs besetzten, ging es erst um eine Abschaffung der Ökosteuer auf Benzin, dann aber um viel mehr. Philippe erinnert sich, dass er die Sprecherinnen und Sprecher der Bewegung sehr bald nach den ersten Aktionen nach Paris in seinen Amtssitz einlud, um zu verhandeln. Aber am Morgen des vereinbarten Termins sagten sie ab: Sie hatten aus den eigenen Reihen Morddrohungen erhalten.
Die große und gewaltbereite Bewegung, die nicht nur in Paris, sondern in allen Provinzstädten Zehntausende Menschen mobilisieren konnte, verabscheute jede Form der politischen Repräsentation, sie duldete auch keine Kommunikation mit dem Regierungschef. Wer auch immer von ihnen im Fernsehen auftrat, wurde von den politischen Freundinnen und Freunden diskreditiert und angefeindet.
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Bewegungen, die keine Organisation möchten und auch nicht teilnehmen am politischen Wettbewerb und am parlamentarischen Verfahren, sind ein Kennzeichen der Zeit. Ihnen gemeinsam ist ein sehr spezifischer und stets hasserfüllter Furor. Diesen kulturellen Treibstoff beziehen ihre Mitglieder aus derselben Quelle: stundenlange Solosessions vor den Radikalisierungsfilmen und Chatgruppen der großen digitalen Plattformen, theoretisch vernetzt, faktisch aber ganz allein.
Auch die Bewegung der Querdenker fügt sich gut in dieses Schema. Wer die Wortbeiträge auf Demonstrationen hört, die Schilder liest, kann sich fragen, ob die steilen Thesen, etwa der ewige Vergleich der Bundesrepublik mit dem NS-Staat oder dem SED-Regime, den Test eines freimütigen politischen Smalltalks in der Familie oder am Arbeitsplatz bestehen mussten. Kennen die denn niemanden, der diesen offenkundigen Unsinn widerlegt - oder sind sie für andere Ansichten gar nicht mehr erreichbar? Als der individuelle Alltag noch kommunikativ durch Großfamilie, Firma, Nachbarschaft, Kirche und Gewerkschaften geprägt war, wären die gröbsten historischen Verirrungen noch vor dem Mittagessen ausgeräumt worden. Heute hingegen werkeln viele Menschen an ihren Privatideologien wie einst Modellbauer im Hobbykeller an besonders komplexen Holzschiffen.
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Man sollte diese Bewegungen in einem Zusammenhang und vor dem Hintergrund einer umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklung betrachten - der Zunahme der Einsamkeit.
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Der negative Aspekt des zugegebenermaßen auch als befreiend erlebten, digitalen und postmodernen Individualismus ist die zunehmende Vereinzelung, die Abnahme der Kompetenz, zu kooperieren und Kompromisse zu finden, sowie die Zunahme des allgemeinen Misstrauens.
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Als sich die Industriearbeiter formierten, fand das seinen Ausdruck im Aufstieg von Sozialdemokratie und Kommunismus; als die religiöse Landbevölkerung und die frommen Handwerker der Provinzstädte sich in Zeiten zunehmender Urbanität und Moderne zusammenfanden, begann der politische Katholizismus. Bewegungen wie die Querdenker sind der politische Arm der Einsamkeit.