@ Aira
Mit deinem letzten Beitrag eröffnest du ein neues Fass. Da dieses aber zum Verständnis der von uns hier debattierten Frage gehört, will ich darauf eingehen.
Dieses neue Fass ist die Frage des Lernens. Wie lernen wir und wie verarbeiten wir diese Lerninhalte? Ich will jetzt hier nicht eine lerntheoretische Diskussion oder eine über die verschiedenen Theorien und Meinungen zur Psychotherapie führen, sondern nur eine kurze Verständniseinführung in die allgemeine Grundlagen geben. Um jetzt nicht in eine breite Debatte eintreten zu müssen, halte ich mich recht eng an die Diktion und den daraus sich entwickelnden Fragestellungen deines Beitrages.
Seit Darwin wissen wir, dass Lerninhalte in den Genen eingelagert werden können und Veränderungen dieser Lerninhalte erst einen Lernprozess über mehrere Generationen hinweg erfolgen können. Dieses verändern der Lerninhalte nennen wir Anpassung. In den Genen werden jedoch nur die Lerninhalte eingelagert, die zum biologischen Überleben erforderlich sind. Alle Lerninhalte, die sich auf soziale, verhaltens, bewegungs oder intellektuelle Inhalte beziehen, werden nicht in den Genen abgespeichert, auch wenn dieses von der allgemeinen Bevölkerung meistens so gemeint wird. Diese Lerninhalte können durch ein Umlernen "überschrieben" werden.
Gelernte Lerninhalte werden erst einmal ins Kurzzeitgedächtnis abgespeichert, bevor es in das Langzeitgedächtnis gelangt. Dieses Langzeitgedächtnis weist nun verschiedene Ebenen der Tiefe aus. wenn wir Lerninhalte so verstanden und "automatisiert" haben, dass wir diese Lerninhalte anwenden und einsetzen, ohne uns diese einzelnen Schritte bewusst zu überlegen, dann liegen diese Lerninformationen in einem Bereich, den wir das Unterbewusstsein nennen.
Da jeder Lerninhalt mit einem Handlungscode verbunden ist, der nicht nur Aussagen über den Inhalt dieser Information trifft, sondern auch über seine Bedeutung, seinen Schutzrang, den Zeitpunkt und Umstand seines Erlernens, genügt es in der Tat oftmals nicht nur, den Inhalt als solchen zu verändern. Man muss dann auch seine Begleitinformationen verändern.
Diese Vorinformationen sind meiner Meinung nach wichtig, um deine Aussage: "Unbewusstes kann man mit Ratio nicht erreichen, ..." beantworten zu können, ohne hier die von dir durchaus korrekt genannte Ausnahmesituation: "..., es sei denn, du unterziehst jeden einzelnen dieser Gesellschaft einer Psychoanalyse, in der das korrigiert werden kann, was in deren frühen Kindheit passierte: ..." besprechen und berücksichtigen zu müssen. Hier unterliegst du einem weit verbreitetem Irrtum, der aussagt, die im Unterbewusstsein abgelagerten Informationen (Lerninhalte) können nur durch eine Psychotherapie erreicht und verändert werden. Die Psychoanalyse ist nur eine der Methoden der Psychotherapie. Die Psychotherapie kümmert sich nur um die Lerninhalte, die den Menschen krank machen oder in seiner Lebensführung stark beeinträchtigen. Unsere Debatte hier berührt somit nicht das Thema der Psychotherapie, obgleich hier die Grenzziehung für den nicht ausreichend geschulten Menschen oftmals sehr schwer zu erkennen ist. Unsere Debatte hier bezieht sich nur auf ein normales, kein krankhaft verändertes oder beeinträchtigendes Lernen und Verstehen sozialer Lerninhalte. Jetzt konkret gesagt. Das von dir seit deiner frühesten Kindheit gelernte Lerninhalt, dass Nacktheit etwas unanständiges sei ist von dir als eine so dominante Nachricht abgespeichert worden, dass es zu einer absoluten Norm wurde. Später wurde dieses Nacktheitsverbot noch mit den Geschlechtsorganen verbunden, weil man weder daran spielen noch diese zeigen durfte, so dass alles, was die Nacktheit betrifft und alles, was die Sexualorgane betrifft, zu einer absoluten Verbotsinformation wurde und so verschmolz. Ein Kind kann nicht den Unterschied zwischen der Nacktheit und der Sexualität erkennen, weil es hierfür nicht sensibilisiert ist. Sobald diese Sensibilisierung aufgrund der Entwicklung geöffnet wird, steht diese verschmolzene Entwicklung schon so fest im (Unter)Bewusstsein verankert und ein kritischer Betrachtungsprozess dieser Informationen wurde somit verunmöglicht.
Da es sich jedoch um zwei verschmolzene Lerninhalte handelt, können diese wieder getrennt und somit umgelernt werden. Ja, dieses bedarf eines längeren Lernprozesses, weil hier ja ein bereits automatisierten Lernempfinden aufgebrochen und neu sortiert werden muss. Dieses geht nur über die Ration. Wenn man hier den Weg über eine Lernen über das Verhalten geht, dann dauert dieser Prozess länger und wird wegen der hierdurch immer wieder auftretenden Konfliktsituationen (altes und automatisierte Lernempfinden gegen neue Lerninformation) gestört. Kurzum, es ist jederzeit möglich, Lerninhalte, die im Unterbewusstsein abgespeichert sind, über die Ration zu verändern (anzupassen). Dieses bedeutet aber, sich ständig mit dieser Frage zu beschäftigen, bis die neue Lerninformation verinnerlicht und somit automatisiert wird und wurde. Sei dir ruhig bewusst, solche Auseinandersetzungen zwischen den Lerninhalten aus der Kindheit mit den Erkenntnissen und Lerninhalten der jeweiligen Jetztzeit durchläuft jeder Mensch sein gesamtes Leben. Immer wieder neu, mal schwerer und mal leichter.
Bezüglich der Frage der Homosexualität würde ich nicht von Tabus reden. Die Homosexualität als solches ist kein Tabu, es ist eine Veranlagung. Der Umgang mit der Homosexualität und ihre moralische Bewertung unterlag einem Fehlschluss aufgrund eines Unwissens bezüglich der Weitergabe des Lebens. Bedenke bitte, erst im Jahre 1826 wurde die weibliche Keimzelle, die Eizelle, entdeckt und ihre Funktion im Entstehen neues Lebens verstanden. Es hat dann noch knapp 150 Jahre gebraucht, bis die Homosexualität der Männer, denn die der Frauen war niemals Gegenstand einer Norm, aus dem Strafrecht gelöscht wurde und es dauerte dann nochmals Jahrzehnte, bis die Homosexualität nicht mehr als eine behandlungsbedürftige sexuelle Abartigkeit betrachtet wurde. Vom Normverständnis und ihre moralische Bewertung ist der Kampf um die Gleichstellung der Homosexualität mit der der Heterosexualität noch nicht zum Ende gekommen. Ich würde jedoch, um hier Missverständnisse vorzubeugen, nicht von einem Tabu sprechen, da ein Tabu einen anderen Sachverhalt beschreibt. Darum rede ich hier auch lieber von einem tabuähnlichen Zustand.
Eule hat geschrieben:
Hinweise auf den guten Anstand, die guten Sitten oder auf ein unmoralisches Verhalten weisen nicht auf einen Tabubruch hin, auch wenn dieses in großen Teilen der Allgemeinheit so genutzt oder verstanden wird.
Nicht? Du sprichst das aber in Bezug zur Sexualität durchaus von Anstand:
Eule hat geschrieben:
Sexuell motiviertes Verhalten, gleich ob die handelnden Personen bekleidet oder unbekleidet sind, gehören ab einer bestimmten Handlungstiefe in die Privatsphäre. Der Anstand, der gute Ton beschreibt diese Grenze.
Du widerlegst dich damit selbst.
Hier liegt kein Widerspruch vor, weil die Norm des Anstandes hier wie ein Tabu, also tabuähnlich angesehen wird.
Hier in unserer Gesellschaft gibt es keine Tabus. Es gibt keine Norm, kein Lerninhalt in unserer modernen Gesellschaft, die die Voraussetzungen erfüllt und Konsequenzen bei einem Bruch dieser Norm, dieses Lerninhaltes zeigt. Wir reden im allgemeinen zwar von Tabus, um einer Norm einen herausragenden Charakter zu verleihen. Aber die bei einer Übertretung, einem Bruch dieser Norm zwingend dazu erforderliche Konsequenz fehlt.